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Das Elend der Gruppendynamik

Gespeichert von zimmer_1 am/um

Hiermit lege ich eine kritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsfeindlichkeit der Gruppendynamik vor - auch wenn ich selbst in meiner Trainingspraxis gruppendynamische Elemente verwende. Das Ganze bleibt für mich also extrem widersprüchlich.

.2022-1_MarxBlaetter__Wissenschaftsfeindlichkeit wzw.pdf

Lieber Herr Zimmer-Winkelmann,

Ca. Ende 2017 hatten Sie ja schon einmal eine gut 60seitige Abhandlung mit gleichem Titel in Form einer Polemik auf dem Portal der DGGO eingestellt, auf die im Januar 2018 Karl Schattenhofer geantwortet hat. Ihr Originaltext ist dort allerdings nicht mehr zu finden. Ich habe den Text damals zu lesen versucht, bei einem Versuch ist es aber auch geblieben. Heute schieben Sie nun eine kürzere Version nach, und obwohl es Ihnen gelingt, in Ihrem Text alle meine kritischen Beiträge zur Gruppendynamik aus den letzten Jahrzehnten konsequent zu ignorieren, habe ich mir diesmal die Mühe einer vollständigen Lektüre gemacht – und eine Mühe ist es geblieben.

Ihre Hauptthese ist die der Wissenschaftsfeindlichkeit der Gruppendynamik. Es bleibt unklar, ob damit alles gemeint ist, was je über Gruppendynamik geschrieben wurde, vom apodiktischen Charakter Ihrer Schrift her liegt diese Vermutung aber nahe. So viel wage ich mich aber zu sagen, zumindest Ihr Text ist ein gutes Beispiel für Wissenschaftsfeindlichkeit und schließt damit an eine alt-linke Tradition der 1960er bis 1970er Jahre an, von der ich nicht gedacht hätte, dass es sie in dieser Form noch gibt. Vom “Sinken des geistigen Niveaus im verfallenden Kapitalismus“ (64) ist da die Rede, eine Wendung, die übrigens auf die Nähe dieser linken Phraseologie zu stramm rechtem Gedankengut verweist. Darunter fällt wohl alle Wissenschaft, deren Erkenntnisziel es nicht ausschließlich ist, alle Problemlagen „in allerletzter Instanz auf ökonomische Klassenverhältnisse zurückzuführen“ (65). Schon die Formulierung von der „allerletzten Instanz“ verweist auf die quasi religiösen Quellen eines solchen Denkens, dass nur sich alleine in der Lage sieht, diese allerletzt Instanz zu erkennen, während die „Quellen und Theorien der bürgerlichen Sozialwissenschaften … in ihrem wissenschaftlichen Charakter ihrerseits wiederum zweifelhaft sind“ (65). Du meine Güte, hier wüsste ich gar nicht, wo ich denn mit einer Gegenargumentation einsetzten müsste, zumal ich davon ausgehe, dass jemand, der solche Sätze schreibt, argumentativ sowieso nicht mehr erreichbar ist.

Rogers als reinen „Empathiker“ zu diffamieren, halte ich für schlicht uninformiert. Hinsichtlich des Fabulierens von Olaf Geramanis (66) hätte es ihrer Argumentation deutlich mehr genützt, wenn Sie sich mal sein jüngstes Angebot angeschaut hätten: ein „neues Gruppendynamisches Training ‚Macht und Freiheit in Gruppen‘ im Golfhotel Les Hauts de Gstaad“ (Newsletter 1-22 der Fachhochschule Nordwestschweiz), das in der Kombination von Titel, Ort und Preis, und dies unter der Rubrik Soziale Arbeit, mühelos die Grenze zur Realsatire überschreitet. Aber vielleicht wären Sie damit ja schon zu sehr in den Mühen der Ebene angekommen, die sie mit Ihrem hohen Ton konsequent umschiffen. Homans als einen „der ersten Gruppenforscher in der jungen BRD“ zu bezeichnen (69), kann ich mir nur als freudsche Fehlleistung erklären.

Und dann wird es im Vokabular noch richtig unangenehm: „Gruppendynamik als ein Feld bürgerlicher Sozialwissenschaften wie auch ihre wissenschaftliche Minderwertigkeit (sic) erwächst realen gesellschaftlichen Verhältnissen“ (70).

Man kann, rückblickend, nur dankbar sein, dass dieses Denken, dass dem totalitären linken Diskurs der alten Bundesrepublik entstammt, mit dieser untergegangen ist, auch wenn untote Reste davon anscheinend noch weiter herumgeistern und nach Erlösung suchen.

Oliver König

Lieber Oliver König,

vielen Dank für Ihre Mühe, meinen Text zu lesen und diese Mail zu schreiben. Ich weiß jetzt, woran ich bin. (Im Übrigen habe ich auch Phantasien darüber, warum der Text aus dem Jahr 2017 entfernt worden ist.)

Ihre Bücher, in denen Sie sich mit dem Gegenstand Gruppendynamik auseinandersetzen, stehen bei mir im Bücherschrank. Ich habe aus ihren Veröffentlichungen viele Inspirationen über den Gegenstand Gruppendynamik (und für meine widersprüchliche Praxis als Trainer) gewonnen.

Das Ihre lesenswerten Publikationen nicht dazu geführt haben, einen anderen Text als den vorhandenen in den Marxistischen Blättern zu veröffentlichen, möchte ich an einem aktuellen Beispiel - nämlich der Auseinandersetzung um die Klärungsstelle in der DGGO - deutlich machen.

Ihre Kritik und Ihren Ärger ("Bauchgrimmen"), dass "mit »Kund/innen« ein Begriff eingeführt [wird], der im Kontext gruppendynamischen Arbeitens in die Irre führt" finde ich zunächst grundsätzlich sehr sympathisch. Sie kritisieren ja seit vielen Jahren zu Recht die zunehmende "Ökonomisierung" in der Gruppendynamik.

Mein "Bauchgrimmen" wiederum besteht nunmehr darin, dass ihre berechtigte Kritik an den Begriffen (und auch an der Gruppendynamik insgesamt) in der Luft hängen bleibt und nicht konsequent zu Ende gedacht wird (also wie wir Materialisten sagen würden: idealistisch ist), weil sie sich weigern – und hier zeigen sich fundamentale Unterschiede in der Weltanschauung und in der Sicht auf den Gegenstand – die gesellschaftlichen Gesamtzusammenhänge für die Entwicklungen im Gegenstand und der Praxis sehen zu wollen.

Diejenigen, die im Jahr 2022 mit "Gruppendynamik" ihre Existenz als TrainerIn, TeamentwicklerIn, BeraterIn etc. sichern müssen, tun das unter erheblich größeren Zwängen als jene Generation, die als Folge der gesellschaftlichen Proteste in den 60er Jahren sich in ihrer Vereinsnische einbilden konnten, dass positive gesellschaftliche Veränderungen auf eigene Leistung im Gruppenprozess und Qualifikationen im Umgang mit Gruppendynamik zu reduzieren seien und gesellschaftliche Prozesse als Randbedingungen banalisiert werden dürfen.

Die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse zwingt uns aber, Optimierung und eben den "Kunden" als Kunden in den Fokus zu nehmen, weil wir den "Kräften des Marktes" übergeben sind und "keineswegs in ein Reich der Freiheit" eintreten (vgl.: König, Oliver (2007): Gruppendynamik und die Professionalisierung psychosozialer Berufe, Heidelberg, S. 25.) – nicht nur jene, die dem sogenannten „freien Markt“ direkt ausgesetzt sind, sondern auch jene Internen, die mit ihrer Tätigkeit einen Nutzen für die Organisation nachweisen müssen, der ihre Stelle rechtfertigt. Wir haben also keineswegs die freie Entscheidung darüber, ob uns ein/e Kunde/In gegenübersitzt oder ein/e TeilnehmerIn. Das Abhängigkeitsverhältnis ist ja real und kein Konstrukt. Nur wenn der Kühlschrank voll ist und die Miete auf absehbare Zeit bezahlt, können wir bei allzu offensichtlichen Optimierungserwartungen des "Kunden" aufstehen und gehen.

Meine Kritik ist nicht als moralische Kritik an den Handlungen von GruppendynamikerInnen zu verstehen, weil ich selbst ja durch meine Praxis dabei mitmache, um zu leben. Gravierender finde ich, dass es innerhalb unseres Verbandes und in der Fachdiskussion - aus Gründen, die ich in meinem Aufsatz hergeleitet habe - kein Problembewusstsein und damit keine Bereitschaft dazu gibt, solche Zusammenhänge evtl. möglicherweise überhaupt näher betrachten zu wollen.

Das minderwertige Niveau der Diskussion zeigt sich in meinen Augen nicht nur gesellschaftlich in der Diskussion sogenannter Querdenker, sondern auch in den Beiträgen ihrer Kritiker und in der aktuellen Debatte um den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine (nicht Putins gegen die Ukraine). Auch in unserem Vereinsleben, dass ich seit nunmehr 20 Jahren begleite, zeigt sich der Verfall der inhaltlichen Debattenkultur. Ein Tiefpunkt war für mich der Versuch, "Organisationsdynamik" adäquat zu erfassen. Das von einer Arbeitsgruppe verfasste "Konzept" (?) (Fragend nähern wir uns dem Phänomen, Anlage zum Protokoll der Mitgliederversammlung DGGO e.V. vom 19. Juni 2016.) und die auf der MV im Juni 2016 erfolgte Diskussion haben mich diesbezüglich nachhaltig beeindruckt (um es in modernem Sprech euphemistisch auszudrücken).

Als letztes: Das links und rechts im gesellschaftlichen Herrschaftsdiskurs gleichgesetzt wird, stößt mir immer wieder auf. Aber ob Sie mit Ihrer Gleichsetzung der Ansicht sind, dass ich mit jedem dahergelaufenen AfD'ler zu vergleichen bin, sollten wir - möglicherweise - in einem persönlichen Gespräch klären, weil Schriftkommunikation dazu ungeeignet ist.

Werner Zimmer-Winkelmann

P.S.: Im Übrigen ist es Ironie der ganzen Angelegenheit, dass der desolate Zustand vieler linken Organisationen und ihrer Politikansätze mit ihrer mangelhaften gruppendynamischen Kompetenz zu tun hat.