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WAS IST ORGANISATIONSDYNAMIK?

DIE LEBENDIGE UND FLÜSSIGE SEITE VON ORGANISATIONEN

Ganz allgemein bezeichnet Organisationsdynamik das lebendige und veränderliche Kräftespiel innerhalb von Organisationen, zwischen ihren eher starren Strukturen von Aufbau und Ablauf, von Regeln und Funktionen. Zugleich steht der Begriff aber auch für die „flüssige“ Seite von Organisationen, den Anteil, der es ihnen ermöglicht, sich an die Veränderungen ihrer inneren und äußeren Umwelt anzupassen.

 

Seit der Entwicklung von Organisationen im modernen Sinne, war ihnen eines gemein: das Streben nach reibungslosen Abläufen, klaren Befehlsketten und der bestmöglichen Zuordnung von Aufgaben. Die Existenz einer Organisation ergab sich aus ihren Zwecken und Aufgaben sowie deren geordneter Erfüllung. Dem entsprachen auch die Bilder und Modelle, mit denen Organisationen beschrieben wurden: Maschinen, Uhrwerke und Getriebe! Sie symbolisierten das Ideal einer guten Organisation. Wenn eine Organisation einmal nicht so funktionierte, wie man sich das wünschte, so wurde passend dazu der Versuch unternommen, die Organisation zu reparieren, sie zu justieren oder den „Sand aus dem Getriebe“ zu entfernen. Menschen standen dabei nicht im Mittelpunkt.

 

Gleichwohl war nicht verborgen geblieben, dass in Organisationen nicht nur technische Funktionen zusammenwirken, sondern dass diese – trotz voranschreitender Taylorisierung und Automatisierung – immer noch an Menschen gebunden waren. Es bestand von Anfang an der Verdacht, dass es wohl die Menschen waren, die gelegentlich die „schöne Ordnung in den Organisationen durcheinander brachten“.

 

Je mehr sich Organisationssoziolog/innen und Arbeitspsycholog/innen mit dem Verhalten der Menschen in Organisationen befassten, desto deutlicher wurde, dass sowohl die einzelnen Personen als auch die Gruppen, die sie bildeten, eine eigene, oft inoffizielle Dynamik entfalteten. Man erkannte: Die Führungskräfte und Mitarbeiter/innen, die Mannschaften und Teams, die Cliquen und die „Subkulturen“ entwickeln, neben und mit der Erfüllung ihrer Aufgaben noch ganz andere Interessen und Motive, noch ganz andere Ziele und Effekte in der Organisation als lediglich ihre vorgesehene „Pflichterfüllung“. Als Antwort versuchte man diese Störfaktoren zunächst entweder durch die Befestigung der Ordnung, also Disziplinierung, auszuschalten, oder aber man gab den menschlichen Bedürfnissen unter dem Begriff der Humanisierung gezielte Freiräume, um sie vom eigentlichen Arbeitsprozess fernzuhaltens. So hieß es bei den einen: „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps!“ und bei den anderen „Wer viel arbeitet, soll auch gut leben!“.


Mit einem fortschreitenden wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungsprozess bildete sich aber insbesondere im Bereich der Führungsforschung auch die Vorstellung aus, dass man die persönlichen Motive und die sozialen Bedürfnisse der Menschen gezielt für eine Intensivierung und Verbesserung der Funktionsabläufe, also der Arbeit in der Organisation nutzen sollte. Schon vor dem zweiten Weltkrieg wollte die sogenannte Human-Relations-Bewegung die menschliche Seite neben der funktionalen zu einem zweiten, integrativen Teil der Organisation machen und die Organisation als ein sozio-technisches System steuern. Fortan war die Rede von „Social Engineering“. Arbeit sollte die Arbeitenden künftig unmittelbar befriedigen. Organisationen sollten ihren Mitgliedern eine Heimat bieten und als Identifikationsobjekt dienen.

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs kamen Forscher/innen, die sich bis dahin mit dem menschlichen Verhalten und dem Kräftespiel in Gruppen befasst hatten, in engere Berührung mit dem Innenleben von Organisationen, so auch Kurt Lewin, der als einer der ersten die Dynamik in Gruppen als Mittel zur Verhaltensbeeinflussung entdeckt hatte. In den USA wurde er gebeten, sich um die Beilegung von sozialen Spannungen in Unternehmen zu bemühen, um zugleich die Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden und ihrer Organisationseinheiten wieder herzustellen. Heute würde man sagen, er sollte sich um die „Soft-Skills“, das Betriebsklima und die Organisationskultur der betroffenen Bereiche kümmern.


Er tat dies mit einigem Erfolg, in dem er die betroffenen Mitarbeiter/innen zu Beteiligten machte und unmittelbar in die Erarbeitung seiner Problemdiagnosen einbezog (Aktionsforschung). Dabei kamen ihm seine intensiven Erfahrungen aus der Arbeit mit Gruppen zugute. Als Feldtheoretiker war er sich der Wirkung sozialer Barrieren und Bahnen auf die Dynamik sozialer Beziehungen bewusst. So konnte er neben unmittelbar sozialpsychologischen Aspekten, also der Gruppendynamik, auch die Bedeutung organisationaler Rangunterschiede und Zugehörigkeiten -mithin die Dynamik der institutionalisierten Rollen berücksichtigen. Lewin ging bei seinen Analysen stets von einem unmittelbaren Einfluss der Arbeitsorganisation auf die Wahrnehmung und das Verhalten der Menschen in der Organisation aus.


Aus diesen ersten Anfängen heraus entwickelten sich Ansätze einer „angewandten Gruppendynamik“. Gruppendynamische Trainer/innen übertrugen ihre Erfahrungen aus den sogenannten T-Gruppen der gruppendynamischen Laboratorien auf die Beziehungsgestaltung in Organisationen. Klassische gruppendynamische Themen, wie „Macht, Einflussnahme und Abhängigkeit“, „Nähe und Distanz“ sowie „Zugehörigkeit und Loyalität“ wurden in organisationalen Kontexten identifiziert und dort mit den Mitteln gruppendynamischer Trainingsarbeit „behandelt“. Dabei ergab sich allerdings eine gewisse Reduktion organisationaler Rollenbeziehungen auf interpersonelle Beziehungen. Weil man - anders als seinerzeit Lewin - die bereits erprobten Settings der gruppendynamischen Trainingsarbeit im Prinzip bruchlos auf die Life-Situationen in Organisationen übertrug, erlebten nicht wenige die gruppendynamische Methode als bedrohlich und wenig konstruktiv. Nicht Reflektion, sondern Irritation, nicht Verhandlung, sondern Konfrontation bestimmten damals für viele Betroffene die gruppendynamische Arbeitsweise in Organisationen. Parallel dazu verfolgten andere Gruppendynamiker den ebenfalls auf Lewin zurückgehenden Ansatz des „Action Research“ weiter und machten daraus ein Konzept und eine Praxis von „Organizational Development“ („Organisationsentwicklung“. Sie gingen unter anderem davon aus, dass die Mitglieder einer Organisation in vieler Hinsicht andere, aber genau so treffende und unverzichtbare Aussagen über den Zustand ihrer Organisation machen können wie geschulte Außenstehende. Die Beteiligung von Betroffenen wurde in diesem Rahmen ebenso wichtig wie die „Steuerung von Oben oder von Vorne“. In beiden Konzepten gab man also eine totale Kontrolle der Organisation und den Versuch einer präzisen Vorhersagbarkeit ihrer Ergebnisse zugunsten einer „konflikthaften Durcharbeitung“ offener Fragen und/oder einer „gemeinsamen Suchbewegung und Interessenverhandlung vieler Beteiligter“ auf. Dieser Art, prozessorientiert zu denken und zu handeln, ist der Gruppendynamik auch heute noch sehr vertraut.

Mit dem Einsetzen der sogenannten Globalisierung ab den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte sich auch in der Managementwissenschaft ein neues Bild von Organisationen, das nicht mehr statisch, sondern dynamisch ausgerichtet war. Organisieren wurde immer häufiger nicht als die Realisierung einer Blaupause mit kontrollierten Modernisierungsstufen und geplanter Innovation betrachtet (Re-Strukturierung), sondern als ein permanenter Prozess der Weiterentwicklung unter möglichst gelungener Beteiligung der betroffenen Organisationsmitglieder (Lernende Organisation). Organisieren und Steuern wurde nun als Gestaltung von „Change“, von Veränderung, verstanden und dementsprechend konzipiert und geschult.


In gruppendynamischen Kontexten begann man nun bewusst und systematisch von Organisationsdynamik im Unterschied zur Gruppendynamik zu sprechen. Damit bezeichnete man zunächst einmal die Vielzahl der Haupt- und Nebeneffekte, die Handlungen in Organisationen auslösen. Später verstand man darunter aber auch die Gesamtheit der nicht mehr vollständig vorhersagbaren Wechselwirkungen zwischen den zahlreichen Akteuren in „verflüssigten“ Organisationen. Organisationsdynamik wurde zum Synonym für das, was man nicht ganz versteht, was man nur gemeinsam klären kann, was sich zum Teil hinterrücks und unkontrolliert durchsetzt – im Guten wie im Schlechten. Kommunikative Kompetenz wurde nun zur Schlüsselqualifikation für Führungskräfte. Alle kommunikationsbezogenen Fachrichtungen und Trainings-Methoden, die mit Komplexität umgehen können, wurden an Führungskräfteschulungen beteiligt, so auch die Gruppendynamik.


Hochfliegende Pläne und Hoffnungen - sowohl hinsichtlich einer weiteren Humanisierung von Organisationen als auch hinsichtlich einer Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit - begleiteten diesen Weg der Neuorientierung. Leider jedoch gingen diese Hoffnungen nicht so einfach in Erfüllung. Zu groß waren sogenannte „Widerstände“ in der Organisation und bei den Beteiligten; zu undurchschaubar und manchmal überraschend unberechenbar waren die Reaktionen, die man erlebte. Nachdem man anfänglich versucht hatte, diese Probleme durch einen verstärkten Einsatz von dynamisierenden Sozialtechniken (wie z.B. „open space“) zu überwinden, musste man doch bald einsehen, dass Organisationen an sich und in sich einen Faktor von „Störrigkeit“ und „Eigensinn“ entfalten, der sie nur begrenzt steuerbar macht.

Hier nun kam den Praktikern der Organisationsveränderung genauso wie den Erforschern von Organisationsprozessen ein Konzept zu Hilfe, dass sich bereits seit längerem parallel zu diesen Bemühungen entwickelt hatte: Die Systemtheorie nach Maturana, Heinz von Förster, Luhmann u.a. Diese Theorie geht davon aus, dass hochkomplexe soziale Formationen, wie z.B. auch Organisationen, sich als halbwegs geschlossene Einheiten darstellen, die eine Eigendynamik entfalten, um ihr Überleben zu sichern (Selbstorganisation). Dabei nehmen sie Beziehung sowohl zu ihrer Umwelt als auch zu sich selbst auf (Selbstreferentialität). Das erlaubt ihnen, sich selbst durch ihre Systemumwelt zu navigieren, sich mit dieser auszutauschen und sich dabei selbständig in Gestalt und Funktion weiterzuentwickeln (Selbststeuerung).


Mit Anwendung dieser Vorstellung auf Organisationen konnte man nun systemtheoretisch verstehen, warum Organisationen grundsätzlich „eigensinnig“ sind, und dass sie durchaus störrisch und widerständig erscheinen können, wenn man keinen Anschluss an ihre „innere Logik“ beziehungsweise die ihrer Mitglieder herstellen kann. Zugleich hatte man jetzt auch eine Rahmung für die zahlreichen und hochkomplexen Wechselwirkungen in Organisationen gefunden: Die sich entwickelnde Organisationsdynamik war nun nicht mehr nur Ausdruck von übermäßig viel Komplexität und damit einer prinzipiellen Überforderung der Beteiligten, sondern zugleich eine höchst produktive Such- und Steuerungsbewegung der Organisation selbst, auf deren Qualität man sich als Mitglied oder Stakeholder auch verlassen darf, wenn man ihr den rechten Raum gibt, sich zu entfalten.


Damit dieser Raum gegeben und damit der Prozess der Selbstorganisation einer Organisation gut gelingen kann, ist es notwendig eine Modellvorstellung davon zu haben, die die Aufmerksamkeit von Prozessarchitekten auf Wesentliches lenkt. Im Bereich der Dynamik von Gruppen haben sich seit vielen Jahrzehnten solche Modelle, allen voran das des sogenannten „Gruppendynamischen Raums“ herausgebildet. Analog dazu haben Gruppendynamiker/innen und andere, insbesondere Organisationsentwickler/innen, schon seit längerem versucht, topografische oder chronografische Modelle von Organisationsprozessen zu entwerfen. Von einem anerkannten universalen Modell ist man aber noch weit entfernt.

Das Positive an diesem Zustand ist, dass Berater/innen und Betroffene, Architekt/innen und Beteiligte, Trainer/innen und Lernende immer wieder neu aushandeln müssen, welche Sichtweisen sie als hilfreich und maßgeblich betrachten wollen. Damit ist der Eigensinnigkeit und Selbstorganisationskraft von Organisationen in jedem Fall ein guter Dienst erwiesen.

Zusammenfassend liegen dem hier dargelegten Verständnis von Organisationsdynamik folgende Eckpunkte zugrunde, die zugleich Perspektiven und Sichtweisen für die gemeinsame Analyse und Weiterentwicklung des Begriffs darstellen.


1. Organisationsdynamik ist die Bezeichnung für die lebendige und „flüssige“ Seite von Organisationen. Im Gegensatz zu den eher als starr erscheinenden Strukturen von Aufbau und Ablauf, von Regeln und Funktionen in einer Organisation, nimmt die organisationsdynamische Betrachtung die Veränderbarkeit, die Anpassungsfähigkeit und die Eigengesetzlichkeit von Organisationen in den Blick.

2. Organisationsdynamik ist im engeren Sinne der Ausdruck des Bemühens einer Organisation sich selbst in ihrer Umwelt zu steuern, sich mit dieser Umwelt auszutauschen und dabei auch sich selbst in ihrer Gestalt und Funktionalität weiterzuentwickeln.

3. Organisationsdynamik wird vor allem angetrieben von den Spannungen zwischen

• den funktionalen Erfordernissen in einer Organisation einerseits und den sozialen Bedürfnissen ihrer Mitglieder andererseits,

• der Notwendigkeit, als Organisation vorgegebenen Zwecken zu gehorchen, zugleich aber das eigene Überleben sichern zu müssen, und

• dem Bedarf nach innerer Ordnung und Regelung und dem gleichzeitigen Zwang zur ständigen Anpassung und Veränderung.

4. Organisationsdynamik tritt am deutlichsten an den Grenz- und Berührungspunkten zwischen der Organisation und ihrer Umwelt und an den Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Akteuren, Personen, Gruppen und Subsystemen innerhalb der Organisation in Erscheinung.

5. Organisationsdynamik wird im Verhalten der beteiligten Funktionsträger/innen und Stakeholder beobachtbar, weil sie deren organisationsspezifisches Rollenverhalten, ihre Gefühle und ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Organisation bestimmt.

6. In einem erweiterten Sinne umfasst Organisationsdynamik auch die mit ihr verbundene Personen- und Gruppendynamik: Die inneren und äußeren Bewegungen der jeweiligen Rolleninhaber werden gebremst oder verstärkt durch ihre personenspezifischen Spannungszustände und Reaktionsbereitschaften. Zudem finden Konflikte und Kooperationen zumeist im Kontext von Gruppen und Subkulturen statt, die ihrerseits „unter Spannung stehen“ und auf die Dynamik der Organisation Einfluss nehmen.

Das organisationsdynamische Geschehen ist somit der unmittelbare Ausdruck der Komplexität und Lebendigkeit von Organisationen als einem soziotechnischen System.

Text: Margarete Gerber-Velmerig, Carl Otto Velmerig

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EINFÜHRENDE LITERATUR

Brinkmann u.a. (2016): 

Fragend näher wir uns dem Phänomen. (Download auf dieser Website)

Faßnacht, Michael, u.a. (Hrsg.) (2010):

Organisation organisieren. Gruppendynamische Zugänge und Perspektiven für die Praxis. Weinheim und München 2010

König, Oliver; Schattenhofer, Karl (2006):

Einführung in die Gruppendynamik. Heidelberg

Trebesch, Karsten (2000):

Organisationsentwicklung. Konzepte, Strategien, Fallstudien. Stuttgart

Organisationsdynamik (Themenheft):

Gruppendynamik, Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie. Heft 4, 21. Jahrgang (Dez. 1991). Opladen